Mehr Zeit Nehmen Fűr Die Familie

Ein befreundeter Fernsehproduzent amüsierte sich köstlich dabei, sich abends auf dem Sofa rührselige amerikanische Serien reinzuziehen. Er weidete sich an dieser klassischen Form der Familienunterhaltung und zählte die Charaktere vorher ab, die am Ende der Folge sterben würden. Dabei lag er praktisch immer richtig. Die Figuren, die man herzlosen Drehbuchautoren herausgeschrieben wurden, waren immer genau die, die in der Anfangssequenz folgende Sätze zu hören bekamen: „Du hast noch ein langes Leben vor dir, mein Sohn“ oder „die Krankheit ist lebensgefärlich – aber wir sie rechtzeitig entdeckt“…..Tot!

In der Politik läuft gewohntermaβen das gleiche Spielchen ab. Die Leute sagen das Gegenteil von dem, was sie meinen. Egal, ob das nun in Berlin, Paris, London oder Washington: Wenn ein Parteivorsitzender inmitten einer Auseinandersetzung vors Mikro treten muss, lässt er verlauten: „Dieser Herr oder jene Frau genieβt mein vollstes Vertrauen. Das bedeutet totsicher: bei der nächsten Kabinettsumbildung…..”Raus!” Und wenn es dann soweit ist, dass diesen armseligen Geschöpfen der Zapfenstreich geblasen wird und sie vor einer Armee von TV-Kameras die plötzliche Rücktrittsentscheidung erklären sollen – dann entfleucht so sicher wie das Amen in der Kirche folgender Euphemismus moderner Politik: „Ich habe mich entschieden, die Ämter ruhen zu lassen, um mehr Zeit für die Familie zu haben.“

Diese Chiffrierung kann jeder von uns als das genaue Gegenteil vom Gesagten entlarven: „Die halten mich für inkompetent oder haben mich dabei erwischt, wie ich einen Bock geschossen habe. Obwohl ich so lange es irgend ging versucht habe, mich an meinem superbezahlten Job mit reichlich Status festzuklammern, hat mir der Boss auf die Finger gehauen und das war’s dann. ….. Hier bin ich wieder.“

Die nächste Kameraeinblendung zeigt dann selbstverständlich den Ehepartner – meistens die Ehefrau – und drei schnuckelige Jugendliche, die den geliebten Vater in Mamas Rockschoβ zurückholen, nachdem sie ihn selten gesehen hatten. 30 Jahre lang war er nur am Samstag Abend oder am Sonntag Morgen daheim.

Im Mediensprech heiβt dieser Rückzugsort „Familienbusen“. Hier kann der gefallene Held bzw. Gauner die kommenden Wochen und, falls nötig, Monate verbringen – ununterbrochen am Telefon, um seine Rückkehr ins öffentliche Leben auszutüfteln……natürlich nur als widerwilliges Zugeständnis an die Forderungen seiner Wähler bzw. seiner Partei, bei der die Karre nach seinem ungerechten Rausschmiss in den Dreck gefahren ist.

Der denkwürdigste politische Abgang des 20. Jahrhunderts war wohl der Rücktritt von US-Präsident Richard Nixon. Er sprang 1974 von der Klippe, bevor man ihn schubsen musste. Wegen des Watergate-Skandals drohte ihm ein Amtsenthebungs-Verfahren. Beim obligatorischen „Familienbusen“-Foto standen seine leidgeprüfte Frau Patricia sowie seine Töchter Tricia und Julie treu an seiner Seite.

Der jüngste Kollaps der Finanzwelt, der 2007 begann und dessen Nachbeben drei Jahre später immer noch spürbar sind, hat natürlich auch zu einer Rücktrittswelle im Banken-Sektor geführt. Solche Abstürze werden gewöhnlich mit einem millionenschweren „goldenen Fallschirm“ abgebremst, der aus dem hart verdienten Geld von Steuerzahlern und Aktionären genäht ist.

Englands berühmtester Kandidat war Sir Fred Goodwin – bekannt unter dem Spitznamen „Schnipsel-Fred“ wegen seiner Vorliebe, durch Entlassungen Geld einzusparen. Der gute Mann trat am 11. Oktober 2008 als Vorstandsvorsitzender der Royal Bank of Scotland zurück. Im selben Jahr wurde der bisher gröβte Geschäftsverlust der Groβbritannien-Sparte verkündet.

In Deutschland sorgte der Fall von Georg Funke für Aufsehen. Der CEO des schlingernden Kredit-Verleihers Hypo Real Estate wurde – bildlich gesprochen – mit Sir Fred gleichzeitig zum Galgen geführt, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einer 50-Milliarden-Euro-Spritze in die Bresche springen musste, um das Unternehmen zu retten.

Das Verblüffendste an all diesen Rücktritten ist, dass sie nur eine Art Trittbrett sind zwischen einem hochbezahlten Superjob, der vollkommen in die Hose gegangen ist, und der nächsten Top-Anstellung, bei der hoffentlich alles besser wird. Und die Sache mit „mehr Zeit für die Familie“ ist niemals ehrlich gemeint. Jeder, der sich auskennt, wundert sich, wie sie es daheim fünf Minuten aushalten können – geschweige denn sieben Tage die Woche, wie bei den meisten Durchschnittsfamilien üblich.

Vielleicht ist es jetzt Zeit, die Stopp-Kelle rauszuhalten. Wir sollten innehalten und uns selbst fragen, was uns Familie wirklich bedeutet. In den vergangenen Jahren standen wir mehrfach am Rande des Abgrunds, was den Rahmen angeht, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Das Problem ist weiterhin ungelöst. Wir müssen uns darüber klar werden, was uns wichtig ist, angefangen bei den Menschen, die uns nahe stehen und die wir lieben.

Blöderweise tun uns wir Nordeuropäer – mit Geld gesegnet, aber an Zeitmangel leidend – schwer damit, das Beste für uns zu erkennen bzw. in die richtige Richtung zu handeln.

Unsere Latino-Freunde dagegen – dazu gehören die spanischen Nachbarn auf der Trauminsel Mallorca – haben sehr enge Familienbande. Sie erkennen den Wert, zusammen zu leben, zu arbeiten und die Freizeit gemeinsam zu verbringen. Und sie wissen, wie wichtig es ist, dass die verschiedenen Generationen miteinander zu tun haben und täglich voneinander lernen.  Ein Beispiel ist das unerschütterliche gemeinsame Essens-Ritual in der Familie, das in zu vielen anderen Ländern verloren gegangen ist.

Wie die Spanier und die Portugiesen, wissen auch die Italiener und die Griechen den Wert der Familie zu schätzen. Sie mögen im Augenblick nicht die blühendsten Volkswirtschaften der EU haben – wer im Bezug auf Spekulationsblasen und Privatverschuldung ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! – aber sie verfügen über ein Alternativ-Kapital, das den Lebensstil im 21. Jahrhundert prägt: echte, solide Familienwerte.

Lasst uns 2010 zu dem Jahr machen, in dem wir lernen statt zu schulmeistern, in dem wir Dinge zu schätzen wissen statt sie schlecht zu machen. Wenn wir ehrlich sind, hat keiner von uns in den letzten Jahren beeindruckende Vermächtnisse hinterlassen. Wenn wir ehrlich sind, dann sind wir alle fähig, ein bisschen mehr Zeit mit unseren Familien verbringen!