Ich, Mein Tolles Leben Und Die Kultur Der Selbstbesessenheit

Bist du abhängig von Social Media?

Die Kultur des 21. Jahrhunderts ist nichts anderes als ein überbordender Ego-Trip. Das Großartige an der Egomanie ist, dass man nicht merkt, dass alle anderen um einen herum genauso von sich eingenommen sind. Damit meine ich, dass unsere Zeit komplett lustvoll konsumiert wird. Stimmts? Bevor wir den philosophischen Diskurs schwingen, wollen wir einen knallharten Psychologie-Test machen, der bis in die Untiefen unseres Charakters vordringt. Zu wie viel Einfühlungsvermögen sind wir fähig, wenn es um die Probleme und Sorgen unserer Mitmenschen geht? Im Klartext möchte ich gerne von Ihnen wissen, was Sie von der herzerwärmenden Geschichte um zwei nicht unbekannte Fußballer-Frauen halten – nennen wir sie Victoria und Cheryl, die sich an einem frühen Septembermorgen in Palma auf ein Tässchen Latte Macchiato Light treffen, verquirlt mit Small-Talk über die englische Premier League.

Wie der Zufall es so will, wurde Victorias Bussi-Bussi-Biographie gerade veröffentlicht. Beim Tratschen mit der Kollegin ergeht sich Posh Spice in Geschichtchen über einen sechsstelligen Vorschuss vom Verlag und lange Abende an der Seite ihres großgewachsenen, dunkelhaarigen, kreuzbraven Ghostwriters. Außerdem ist sie völlig ratlos, wie man der tobenden Menge von Paparazzi entkommen könnte, die vor der Restaurant-Tür Stellung bezogen hat. Die sonst so überschwängliche Cheryl ist zu andächtigem Staunen verurteilt. Außer gelegentlichen Einwürfen wie „Wow“, „toll“ oder „schrecklich“ kommt nichts über ihre Lippen. Victoria dagegen galoppiert mit ihrem selbstverliebten Monolog munter weiter und kommt in schier endlosen Minuten vom Hundertsten ins Tausendste. Ob sie überhaupt noch mal die Klappe hält?

Irgendwann scheint ihr dann doch einmal die Luft auszugehen und Cheryl bereitet den Gegenangriff vor. Was für atemberaubende Geschichten sie zu erzählen hat – vom todschicken neuen Audi R 8, den ihr der Ehemann gerade gekauft hat, um sie über die schamlosen Lügen der Boulevard-Presse hinwegzutrösten, die den Gatten mit völlig belanglosen Beweisfotos mit dem Teleobjektiv überführt hat. „Wirklich, jetzt habe ich genug von mir erzählt“, tadelt sich „Posh“ in einem Anflug von Altruismus selbst – als hätte Cheryl ständig nachgebohrt nach noch mehr pikanten Details. „Das ist genug von mir. Wie sieht´s denn bei dir aus? Sag mal, was du von meinem Buch hältst.”

Worauf es bei diesem Beispiel ankommt ist, ob Sie es kapieren oder nicht – und das wiederum ist entscheidend für Ihre Position auf der Ego-Trip-Messlatte von 1 bis 10. Die 1 steht dabei für Personen, die ein bisschen was wissen von der Welt um sie herum – außer von Mode und Promi-Klatsch – und ihrem eigenen Bekanntenkreis. Das andere Extremum 10 steht für Leute, die hoffnungslos verliebt sind in die einzige Person auf der Welt, auf die es wirklich ankommt: Sie selbst.

Wenn Sie das gerafft haben, besteht noch Hoffnung. Falls nicht, sind Sie vermutlich das weibliche Pendant des Fuballprofis – wegen der guten Vergleichsmöglichkeiten wollen wir in diesem Mikrokosmos bleiben – der sich bei seinem Mannschaftskollegen ausheult: „Meine Frau beschwert sich ständig darüber, dass mir Fußball wichtiger ist als unsere Ehe. Dabei spielen wir erst seit drei Saisons erfolgreich zusammen.“ Seien wir ehrlich: Nicht nur die Fuballer und ihre Gattinnen haben es sich in einer Luftblase der Selbstverliebtheit bequem gemacht – wir alle sind genauso drauf.

Kultur war einmal die Summe von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die gemeinsam die besten kreativen Errungenschaften feierten. Mittlerweile sind wir so selbst-besessen geworden, dass unsere ganze Kreativität in den geistlosen Gully von Facebook und Twitter abläuft. Dort „unterhalten“ wir uns 24 Stunden am Tag mit unseren 650 besten Freunden.

Bonmots wie „Ich bleibe heute den ganzen morgen im Bett und schlürfe meine siebte Tasse Kaffee“ werden aufgeregt gezwitschert.
“Ich trage einen total lustigen Hut und urlaube grade am Fuße der Tramuntana….Kanzlerin Angela Merkel macht Fahrrad-Ferien und ist mit zwei Bodyguards im selben Hotel untergebracht“ könnte ein anderes Posting lauten.
“Mein neuer Audi R 8 kriegt beim Verfolgungsrennen mit einem deutschen Paparazzo die erste Delle ab” , tobt jemand vor Wut.

“Cheryl, denk dir, das millionste Exemplar meiner Biographie hat meine beste Freundin gekauft….ach, und übrigens, vor kurzem bin ich der „Friends of Max Clifford“ Stiftung zur Unterstützung von hilfsbedürftigen Promis beigetreten“, würde unsere vorher genannte Dame glückselig herausprusten.

Nicht jeder ist von Facebook begeistert, obwohl die Fans den Gegnern klar die Schau stehlen. Ich muss zugeben, dass ich immer noch eine Social-Community-Ungläubige bin (zuerst wollte ich sagen „jungfräulich im Bezug auf Online-Plattformen“, aber das hätte missverständlich sein können….).

Ein weltweiter „Wir-verlassen-Facebook-Tag“ am Sommeranfang geriet zum Riesen-Flop. Zumindest machte sich ein US-Komiker darüber Gedanken, welche Auswirkungen ein größerer Erfolg der Kampagne gehabt hätte: „Die Aktienwerte von großen Pharmakonzernen sind heute rapide gestiegen“, vermeldete der Prozac-Hersteller Eli Lilly, nachdem Millionen Online-User mit dem Ausstieg aus Facebook gedroht hatten, in einer Note über Persönlichkeitsrechte.

Der Comedian weiter: „Die Börsianer gehen davon aus, dass weltweit über Nacht eine große Zahl von ehemaligen Usern traumatisiert sein könnte – wegen der Erkenntnis nach dem Aufwachen, dass sie in Wirklichkeit nur eine Handvoll Freunde haben – oder noch weniger.“

Außerdem kann man überhaupt nicht mehr kontrollieren, wer denn da alles zuguckt, wenn man sein neuestes Profil-Update erstellt und die neuesten privaten Anekdoten in Posts veröffentlicht – Persönlichkeits-Fahnder, die gezielt im Netz unterwegs sind, lieben solche Sachen. Zum Beispiel wurde letztens eine Bedienung in der Filiale einer Pizzeria-Kette in den USA gefeuert, weil sie auf Facebook postete, wie wenig Trinkgeld sie bekomme. Ihr böser Chef war mal kurz zu ihr rüber gesurft und hatte sie beim Wort genommen. Die Geschichte ist wahr, obwohl ich dafür keine konkreten Beweise habe.

Insgesamt kann man es auch praktisch betrachten: Alles, was die Leute beschäftigt, hält sie von der Straße weg und das dient der öffentlichen Ordnung. Es ist die uralte „Brot und Spiele“ Strategie, die von meinem römischen Lieblings-Satiriker Juvenal erstmals 100 vor Christus erwähnt wurde – und die im 19. Jahrhundert mit regionalem Flair in Spanien wiederbelebt wurde: Unter dem Motto „Brot und Toros“ vergnügt man sich mit Brot und Stierkämpfen.

Wer kann wissen, was die Millionen Leute auf der ganzen Welt treiben würden, wenn sie nicht so harmlos damit beschäftigt wären, ihre Posts und Tweets ins Netz zu stellen, ihre Profile zu aktualisieren und generell in dekadenten Social-Communities zu stöbern.

Vielleicht würden sie sich mit echter Kultur beschäftigen, mit Musik, Literatur, Malerei, Bildhauerei, Gastronomie – oder sogar mit Wein-Anbau. Was würden dann alle anderen von uns tun? Die Dinge sind doch gut so, wie sie sind. Vielen Dank auch. Alles zwitschert wunderbar!